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Gheorghe Săsărman

Ausgewählte Texte

DIE NARBE

Manchmal traf er sie an, nicht allzu oft, nur wenn er es schaffte, den ganzen Bahnsteig entlangzulaufen, um durch die erste Tür in den ersten Wagen zu steigen. Gewöhnlich blieb er auf der Einstiegsplattform stehen, an eine der Glaswände gelehnt, die den Innenraum unterteilten und die Sitznischen notdürftig von dem Ein- und Ausstiegsbereich abschirmten. Sie stand immer gleich neben der Tür und las Zeitung – dabei war sie derart in die Lektüre vertieft, daß er sie eingehend betrachten konnte, ohne zu riskieren, daß sie aufblickte und ihn als indiskreten Beobachter entdeckte. Er las in der U-Bahn nie. Vielmehr verwendete er die Zeit darauf, Gesichtszüge und Verhaltensweisen der anderen Fahrgäste zu studieren, wie um die Einsamkeit aufzuwiegen, die sich bei dem eingefleischten Junggesellen zwischen seiner Wohnung und dem autistischen Zwiegespräch mit dem Computer im Büro verteilte. Es stand keine Absicht dahinter, er verspürte lediglich, selbst wenn es ihm nicht bewußt war, das Bedürfnis nach dem Kontakt zu den Nächsten, und die Fahrt im öffentlichen Personennahverkehr bot ihm eine willkommene Gelegenheit zur alltäglichen Sozialtherapie.

Es gab natürlich zahlreiche unfreiwillige Versuchspersonen, die er mit der teilnahmslosen Neugier des Naturwissenschaftlers beobachtete. Ihr jedoch gab er merkwürdigerweise, ohne zu wissen weshalb, den Vorzug, der sich vielleicht aus der noch nie getäuschten Gewißheit erklärte, daß sie da war – sie nahm immer dieselbe Bahn zu derselben Uhrzeit, stand immer am selben Platz, immer in derselben achtunggebietenden Haltung, vollauf beschäftigt mit den zweifellos sehr wichtigen Berichten und Kommentaren vom Tage. Nichts Frivoles lag in ihrem Aussehen, es gab nicht das leiseste Anzeichen von Koketterie, nicht das kleinste Zugeständnis an die reizvolle Oberflächlichkeit des schönen Geschlechts. Sie trug schwarze Schuhe mit halbhohen Absätzen, nüchterne dunkle Kostüme mit knielangen Röcken und bei Wind und Wetter einen enggegürteten Trenchcoat und einen Seidenschal. Bevor sie, immer an derselben Station, ausstieg, hob sie eine Einkaufstasche vom Boden auf, legte die sorgfältig zusammengefaltete Zeitung hinein und zog den Tragriemen ihrer Lackhandtasche über der Schulter zurecht. Dann ging sie auf die Rolltreppe zu, ihr Gang hatte die lockere Eleganz jener Wesen, die sich durch einen untrüglichen Gleichgewichtssinn in allem auszeichnen.

Wie so oft sah er ihr mit unverhohlenem Interesse, ja mit Bewunderung nach. Schlanke Fesseln und Waden, biegsame Taille, zarte Hände mit feingliedrigen Fingern, langer Hals – ihre gesamte Erscheinung hatte die Ausstrahlung eines vollkommenen Geschöpfes. Was ihn jedoch richtiggehend faszinierte, das war das unbeschreiblich anmutige Gesicht eines leicht schreckhaften weiblichen Wesens mit von langen Wimpern verschatteten melancholischen Augen, bebenden Nüstern und zartgeschwungenen Lippen. Eine Kleinigkeit nur störte die Harmonie dieses Antlitzes einer keuschen Fee: eine Narbe, die parallel zum Mund über das Kinn verlief, vielleicht die Folge eines Unfalls oder eines chirurgischen Eingriffs. Er rätselte, an welches dramatische Ereignis dieses kaum sichtbare und doch störende, gleichsam unheilverkündende Zeichen erinnern mochte, das schon die sibyllinische Anmutung eines dunklen Stigmas trug, mit dem andere auf Abstand gehalten werden sollten.

Selbst wenn dieses Zeichen jedoch nicht gewesen wäre, hätte er sich keine noch so winzige Geste der Annäherung erlaubt, auch wenn er mehr als einmal die Regung verspürt hatte, sie zu grüßen oder ihr wenigstens zuzulächeln. Das hätte auch keinen Sinn gehabt, denn sie schien nichts wahrzunehmen als die druckfrischen Buchstaben, über die ihr ernster Blick mit einem Ausdruck der Konzentration fuhr, der alles andere als einstudiert war. Wie eingesponnen in einem unsichtbaren Kokon, schien sie mit der Welt nur über jene Zeitungsseiten in Verbindung zu stehen, die sie paradoxerweise zugleich von der nächsten Umgebung abschotteten und vor jeglicher Berührung bewahrten. Ein einziges Mal hätte er sie ansprechen können, als er einen Werbeprospekt für Schweizer Uhren aufhob, der aus der Zeitung gerutscht war, sie jedoch machte überhaupt keine Anstalten, die Lektüre zu unterbrechen, sondern hob nur leicht die Augenbrauen, als würde sie jener Vorgang eher stören, worauf er die Gelegenheit verstreichen ließ, ohne ein Wort hervorzubringen.

An der nächsten Station stiegen zwei junge Leute zu, Hand in Hand. Beide schwergewichtig und hochgewachsen, wobei er sie noch um ein paar Zentimeter überragte. Sie sprachen recht laut, vor allem der Kerl, der ihr erzählte, allerdings so, daß alle es hörten, wie er seine Gegner in einer denkwürdigen Rauferei verhauen hatte. Sie trugen die gleichen breiten Eheringe und hielten sich eng umschlungen, schwerfällig wie zwei Bären und possierlich wie Frischverheiratete, die sie ja wohl auch waren. Ihm schien, als hätte er sie schon gesehen und sei, wenn er sich recht erinnerte, auch damals überrascht gewesen von dem Gegensatz zwischen ihrer massiven Körperlichkeit und der Leidenschaft, die sie in ihren Bann geschlagen hatte, ohne daß auch nur ein Fünkchen Humor aufzuglimmen vermochte, zwei Flußpferde, geblendet von der Brunft. Er ließ seinen Blick von seinen vierschrötigen Zügen zu ihrem faden Gesicht schweifen, dem nur die Jugend einen Anflug von Weiblichkeit verlieh. Gleichsam zur Krönung des Ganzen setzte der Koloß hinter jeden dritten oder vierten Satz einen unappetitlich schmatzenden Kuß, offenbar unter einem mechanischen Wiederholungszwang und ohne jede Gefühlsregung.

Ihm fiel ein Plakat ein, das seit einiger Zeit die Stadt überschwemmt hatte und die Köpfe eines Mannes und einer Frau im Profil zeigte, die sich anlächelten und sich, die Münder weit geöffnet, die Zungen entgegenreckten, so daß sie sich fast berührten – zwei enorme, fleischige, ekelerregende, speichelglänzende Zungen, die das Kameraobjektiv bis in die kleinsten anatomischen Einzelheiten erfaßt hatte. Diese Meisterleistung des schlechten Geschmacks warb für die Internetdienste einer Dating-Agentur. Du ahnst gar nicht, wie nah das Glück dir sein kann! versprach der blöde Werbespruch, ein Glück, das darin bestand, jemanden zu finden, der bereit war, einem die Zunge ellenlang herauszustrecken. Er hätte sich nicht gewundert zu erfahren, daß die frischvermählten Fleischklöße sich gerade auf diesem Weg kennengelernt hatten. Früher, als es noch keine Heiratsagenturen gab, sagte er sich angewidert, hießen die Matronen, die sich mit solchen Vermittlungsdiensten abgaben, schlicht und einfach Kupplerinnen.

Der wie von einem Uhrwerk gesteuerte Rhythmus der Schmatzer ging ihm auf die Nerven. Es war schon vorgekommen, wie denn nicht, daß er in der U-Bahn Leute, auch ältere Semester, angetroffen hatte, die sich umarmten oder küßten, als wären sie allein auf der Welt. Die taten es allerdings irgendwie diskret, ohne blödsinniges Gehabe und nicht in diesem nervtötenden Rhythmus wie ein Roboter, dessen Programmierer die Kontrolle verloren hat. Bla bla bla … bla bla bla … bla bla bla … Schmatz! Bla bla bla … bla bla bla … bla bla bla … Schmatz! Die Türen schlossen sich, die Bahn fuhr an. Bla bla bla … bla bla bla … bla bla bla … Schmatz! Ob dieses Schmatzen denn nur ihn auf die Palme brachte? Die anderen Fahrgäste kümmerten sich scheinbar ungestört um die eigenen Angelegenheiten, es war jedoch schwer zu sagen, ob sie das nur aus Höflichkeit taten oder wirklich immun waren, aufgegangen in der Anonymität der Großstadt und daran gewöhnt, allem, was ihre eigene Existenz nicht gefährdete, gleichgültig gegenüberzustehen. Bla bla bla … bla bla bla … bla bla bla … Schmatz! Er hatte den Eindruck, als fahre die Bahn verdächtig langsam, wie um seine Pein zu verlängern, was seinen Gemütszustand zusätzlich verfinsterte. Er hatte Mühe, sich zu beherrschen und seinen Unmut, ja seine Empörung nicht offen zu äußern, immerhin aber war er sich bewußt, daß er einer Konfrontation mit dem Hünen nicht gewachsen war, gleichzeitig war ihm klar, daß er auf die Unterstützung der anderen nicht zählen konnte. Im Grunde wußte er ja auch nicht, was er hätte sagen sollen: Die Verletzung des Anstandes war keine Straftat, sie lief noch nicht einmal den Verhaltensregeln des U-Bahn-Betriebs zuwider. Bla bla bla … bla bla bla … bla bla bla … Schmatz!

Eine merkwürdige Bewegung kam in dem Wagen auf. Zwei Fahrgäste auf der Nachbarbank, die er immer händchenhaltend zusammen sah, wahrscheinlich ein Ehepaar, hatten damit begonnen, lauter zu reden und dann ihr Gespräch ebenfalls im selben Rhythmus mit sanften Küssen zu punktieren. Nein, es war nicht der sinnliche Kuß der großen Leidenschaft, sondern ebenfalls ein Schmatz nach dem Muster der Mastodonten, die den Takt vorgaben. Bla bla bla … bla bla bla … bla bla bla … Schmatz-schmatz! Bald machte auch das Paar auf der mittleren Plattform mit, und dann noch eins am anderen Ende des Wagens. Tonangebend waren die Fleischberge mit ihrem Schmatzer, auf den nach einer Synkope der quasi synchrone Chor der anderen Küsse folgte. Bla bla bla … bla bla bla … bla bla bla … Schmatz-schmatz-schmatz-schmatz! Zuerst meinte er, es sei Halluzination, seine Vorstellungskraft spiele ihm einen Streich, er bilde sich das alles nur ein in dem Zustand der Überreiztheit, der ihn erfaßt hatte. Er mußte jedoch erkennen, daß die Wirklichkeit selbst verrückt spielte. Nach und nach fanden sich die Fahrgäste zu immer neuen verschieden- oder gleichgeschlechtlichen, verschieden- oder gleichaltrigen Paaren zusammen. Sie sahen sich in die Augen, redeten lauthals mit der größten Selbstverständlichkeit wie alte Bekannte miteinander und ließen das Geschmatze unaufhörlich anschwellen. Bla bla bla … bla bla bla … bla bla bla … Schmatz-schmatz-schmatz-schmatz-schmatz-schmatz!

Die Bahn schien die Fahrt in dem Maße weiter zu verlangsamen, in dem das abartige Geschmatze sich ausbreitete und wie eine Seuche den gesamten Wagen erfaßte. Vor dieser Sturmflut kollektiven Geschwätzes, gespickt mit Geschmatze, verlor er zusehends die Fassung und hätte sich fast zu unüberlegten Handlungen hinreißen lassen. Gern hätte er aus Leibeskräften gebrüllt, was die Stimmbänder hergaben, seiner trockenen Kehle entrang sich jedoch nur ein verzagtes Wimmern, ein kaum hörbarer Klagelaut. Er wollte die Notbremse ziehen, gab sich aber sofort Rechenschaft, daß er dann auf unbestimmte Zeit in der zwischen zwei Stationen blockierten Bahn hätte ausharren müssen und ihn der ansteckende Wahnsinn um den Verstand gebracht hätte. Es war klüger, sich zu beherrschen und beim nächsten Halt zu fliehen und sich auf dem Bahnsteig unter Leuten im Vollbesitz ihrer Sinne in Sicherheit zu bringen. Bla bla bla … bla bla bla … bla bla bla … Schmatz-schmatz-schmatz-schmatz-schmatz-schmatz!

Er wandte seinen wie nach Hoffnung suchenden Blick nach der jungen Frau, die in dieser ganzen Zeit unbeirrt ihre Zeitung gelesen hatte. Als hätte sie nur darauf gewartet, brach sie die Lektüre ab und sah ihn mit komplizenhaftem Lächeln an. Einen Augenblick lang wähnte er sich im siebenten Himmel. Er geriet außer sich, errötete bis in die Haarwurzeln und lächelte unbeholfen zurück. Er konnte gar nicht glauben, daß jenes Zeichen echten Wohlwollens tatsächlich ihm galt. Ihr Lächeln erblühte, entspannte ihre sonst so abwesenden Gesichtszüge, wobei allerdings auch die Narbe sich stärker abzeichnete. Wenn nur nicht auch sie zu schwatzen beginnt, durchfuhr es ihn. Plötzlich fiel ihm der Werbespruch ein – Du ahnst gar nicht, wie nah das Glück dir sein kann! –, und in diesem Augenblick entblößten ihre immer breiter lächelnden Lippen ein lückenloses chromfunkelndes Metallgebiß. Das schaurig blinkende Grinsen ließ sein Blut in den Adern gefrieren. Er sah, daß sie einen Schritt auf ihn zutrat, während ihre Zungenspitze schon zwischen den Schneidezähnen hervorlugte. Noch ein Schritt …

Der rettende Bahnhof! Besinnungslos vor Angst stürzte er hinaus auf den Bahnsteig, ohne sich umzublicken.


(Aus dem Band Himera [Die Chimäre], Verlag Ideea Europeană, Bukarest 2007)

Aus dem Rumänischen übersetzt von Georg Aescht


Gheorghe Săsărman

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